20thMärz

Radkau, Joachim: „Geschichte der Zukunft“ oder besser „Geschichte gescheiterter Zukunftsprojektionen und -visionen“

Geschichtsschreibung ist eine subjektive Wissenschaft, auch wenn immer wieder der Anschein von Objektivität vorgegeben wird. Selbst bei gleichen Quellen kommt es immer wieder zu verschiedenen Interpretationen der Geschehnisse, je nach dem persönlichen Wertungs-Koordinatensystem. Subjektive Urteile sind besonders bei zeitgeschichtlichen Betrachtungen und Schilderungen der Fall. Wer die Achtundsechziger-Bewegung wie deren konkrete Folgen beschreibt, aber dabei die eminent wichtige, ja tragende Rolle der „Frankfurter Schule“ wie des „Neomarxismus“ und deren Einfluss auf die linke „Studentenrevolte“ an den Hochschulen völlig außeracht lässt, dem darf Befangenheit unterstellt werden. Manchmal genügt schon ein winziger Hinweis, um dies zu erkennen.

Nehmen wir hierzu das Buch „Geschichte der Zukunft“ des Historikers Joachim Radkau. Der Titel ist leider irreführend, auf Effekthascherei ausgerichtet und weckt völlig falsche Erwartungen. Der Wahrheit näher kommt schon der Untertitel „Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute“. Das kommt der Aufgabe eines Historikers näher, die Menschen vergangener Zeiten zu beschreiben und deren Motive, Taten, Ziele und Wünsche offenzulegen. Radkau schreibt zur Wende: „1959, in der Zeit von Mao-Tse-tungs „Großen Sprung“, verkündete der Historiker Hermann Heimpel: „Die Geschichtswissenschaft muss den Sprung in die planetare Zukunft wagen“, und wurde damit viel zitiert; aber ihm lag es fern, diesen großen Sprung zu wagen“. Obgleich damals die Futurologie in Blüte stand, wäre es wohl ein Sprung ins Nichts gewesen. Aber von Heimpel inspiriert bekennt Joachim Radkau: „Einst suchte ich zusammen mit meiner Ehefrau Orlinde, wir beide von der lustvollen Seite von 1968 beschwingt, der Lust in der Geschichtsforschung nachzugehen.“ Doch es blieb bei der Lust an der Lust.

 

Zunächst folgte er dem klassischen Weg: „Wer sich der Geschichte zuwendet, dessen Leidenschaft richtet sich erst einmal auf die Retrospektive, und in diese steigert man sich dann hinein; so schwelgt die Urlust des Historikers im Spüren nach den Ursprüngen und immer weiter nach den Ursprüngen der Ursprünge … Und nicht selten verstärkt sich diese Libido durch eine andere Lust: die der Besserwisserei aus der Rückschau. Das ist eigentlich ein billiges Vergnügen, mit dem man nicht unbedingt renommieren kann; aber beim Rückblick auf die NS-Verbrechen und die Weltkriege erlangt es einen Zug von moralischer Überlegenheit. In diesem Sinne wurde „Erinnerungskultur“ zur Parole populärer Geschichtsvermittlung.“ Rückblickende Besserwisserei und das sichere Gefühl „moralischer Überheblichkeit“ versprechen den Beifall eines bestimmten Zeitgeistes und öffentliche Aufmerksamkeit. Es ist inzwischen noch ein weiteres „billiges Vergnügen“ dazu gekommen, nämlich trotz aller negativen Erfahrungen mit Zukunftsprognosen, für sich bestimmte Zukunfts-Prognosen herauszugreifen, sie vorausschauend für zutreffend zu erklären und alles zu kritisieren, was an Gegenargumenten vorgebracht wird. Er zitiert Mansholt: „Zwischen Utopie und Realität entscheide ich mich für die Utopie“.

 

Die größte Utopie derzeit ist die Behauptung, die „Klimazukunft“ der Erde hänge einzig und allein vom CO2-Gehalt der Luft ab und ende in einer „Klimakatastrophe“, wenn nicht in wenigen Jahrzehnten die CO2-Emissionen auf Null reduziert und die gesamte Wirtschaft aller Staaten „dekarbonisiert“ wird. Radkau als Historiker fragt nicht einmal, wie „Klima“ überhaupt definiert ist, sondern übernimmt unkritisch das, was bestimmte von der Politik hofierte „Klimaexperten“ ohne jeglichen Beweis behaupten. Hier werden Annahmen für sakrosankt erklärt, in numerische Modelle gekleidet und die gewonnenen Prognosen zur „Richtschnur“ für die Politik erklärt. Wissenschaft, die in das „Bett des Prokustes“ einer Ideologie gezwungen wurde, führt nicht zur Weisheit, sondern zum Irrglauben.

 

Realität und bundesrepublikanische Wunschträume

 

Der Historiker Radkau legt ein informations- und umfangreiches Werk vor, nur der Titel „Geschichte der Zukunft“ passt nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Der Autor zeichnet eine immerwährende Folge von Fehleinschätzungen auf und gefällt sich im „Vergnügen der retrospektiven Besserwisserei“, als ob die Akteure in der Vergangenheit den Fortgang der Geschichte hätten erkennen müssen. Radkau’s Buch ist eine „Geschichte der Zukunftserwartungen“, des Scheiterns nahezu aller visionären Zukunftsentwürfe. Im Rückblick verfestigt sich der Eindruck, dass wir in einem Zeitalter der Fehlprognosen, der Hysterie wie der nicht eingetretenen Apokalypsen leben. „Es gibt der Zukünfte einfach zu viele, und die sind widersprüchlich und schwer fassbar. Eigentlich ist das wie ein Urwald voller Gewächse, eine Art grüne Hölle der Zukünfte.“

 

Das Buch ist eine Fleißarbeit, ein eifriges Bemühen, Schneisen durch diesen Dschungel zu schlagen, um die Geheimnisse der „grünen Hölle“ zu lüften. Radkau versucht, einen objektiven Standpunkt einzunehmen, bestätigt aber dabei immer wieder, dass Schreiben und Bewerten von Geschichte eine subjektive Angelegenheit ist und bleibt. In der Einleitung äußert er die Befürchtung, dass in demographischer Perspektive die Bundesrepublik Gefahr laufe, zur „Hunderepublik Deutschland“ zu werden. Denkbar sei alles! „Die Zukunft entzieht sich dem systematischen Zugriff; nur durch ein immer neues unruhiges Hin- und Herschauen, durch scharfe Beobachtung der Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Gegenwart kommt man ihr womöglich ein wenig näher.“ Doch am Ende des in zwölf Kapitel gegliederten Buches zeigt sich klipp und klar, dass er die Widersprüchlichkeiten der Gegenwart aufgrund seines von Wunschträumen gelenkten und damit ahistorischen Denkens nicht zu lösen vermag.

 

Das erste Kapitel trägt die Überschrift: „>>Forderung des Tages<< – >>Und der Zukunft zugewandt<<: Der deutsch-deutsche Zukunftskontrast, die offenen und verborgenen Zukünfte und der Überraschungseffekt des >>Wirtschaftswunders<<“. Die Zeit nach dem Krieg erforderte nüchternen Pragmatismus, keine blinde Fortschrittsgläubigkeit. Carlo Schmidt, Konrad Adenauer, Theodor Heuss, Ludwig Erhard handelten nach dem Goethe-Motiv: „Es hilft uns, uns nicht zu verlieren in der Schwärmerei, nicht in den Illusionen eines Fernen, eines Jenseitigen, eines Zukünftigen, sondern real zu werden.“ Der Theologe Helmut Gollwitzer warnte: „Wer bewahrt die Welt vor dieser Weltgefahr Nr. 1: den Intellektuellen, die ihre Theorien entwerfen, das Bestehende verlästern, die Massen mit Utopien verzaubern und den Mächtigen die moralischen Hemmungen wegeskamo-tieren, – ohne die Kosten und Kehrseiten zu bedenken, …“

 

Auf dem Weg zur Herrschaft und Diktatur der Intellektuellen

 

Mit der Wende zu den 1960er Jahren kam es zur Herrschaft der Intellektuellen. Auf internationaler Bühne wurde der Zukunftstrend zur Mode: „Prognosen, Planung und Beratung durch Experten“. Sie wurden importiert. Wie verheerend sich praxisfernes theoretisches Denken auswirken kann, das wird realistisch in Kapitel zwei anhand der Landwirtschaft beschrieben, wo man von einer Ideologie in die nächste wechselte und bis heute zu keiner Lösung gekommen ist. Während man mit den „Grünen Plänen“, die 1955 begannen, die bäuerlichen Familienbetriebe erhalten wollte, war Sicco Mansholt als Brüsseler Agrarkommissar bestrebt, die Kleinbauern loszuwerden. Innerhalb von zehn Jahren sollten in der EWG „von zehn Millionen Bauern nur noch fünf Millionen übrig sein“. Es kam zu einer Agrarrevolution, zu einer subventionierten Überproduktion, zu einer großflächigen Degradation von Boden und Grundwasser, auch gefördert durch die Trennung von Pflanzen- und Tierproduktion.

 

Zu Sicco Mansholt schreibt Radkau: „Sicco Mansholt, seiner politischen Verantwortung entledigt, und dafür Liebhaber von Petra Kelly, der künftigen Gründermutter der Grünen, sprang prompt auf den neuen Trend auf, als sei nichts gewesen, nach wie vor strotzend vor Selbstbewusstsein und ohne einen Hauch von kritischer Reflexion über seinen gerade noch heiß umkämpften großen Plan. Hatte er eben noch die Agrarsubventionen gesteuert nach dem Motto „Wer da hat, dem wird gegeben“, leistete er jetzt großspurige Lippenbekenntnisse zu einem globalen Egalitarismus, wie ich nicht einmal der liebe Gott verwirklichen könnte. „Für uns, die industrielle, die reiche Welt, ist die Senkung des materiellen Lebensstandards ein Gebot“.“

 

Automation, Kybernetik, Roboter und Computer und die „Postmoderne“

 

Das folgende Kapitel befasst sich mit Kybernetik, Roboter, Automation und Atom als technologischen Kern der Zukunft. Die Fixierung auf den technischen Fortschritt nahm „den Charakter einer dämonisch-unseligen Erlösungsreligion“ an, die „Futurologie“ kam in Mode. Aber: „Der Drang zur Generalisierung, zu großen Thesen und Pauschalurteilen blockiert eine präzise und differenzierte Beobachtung der Wirklichkeit in ihren konstanten und fließenden Momenten.“ Dabei erwies sich der Mensch als unendlich manipulierbar. Zur Zeit des Kalten Krieges zeigte sich bei der technischen Elite „mehr Affinität zu einer totalitären als zu einer demokratischen Ordnung“. Visionäre und falsche Propheten sind gefragt. „Post“-Begriffskomposita kommen groß in Mode wie Postmoderne, Postindustrialismus, Posthumanismus, Posthistoire. Nun ist „postfaktisch“ hinzugekommen.

 

Ein umfangreiches Kapitel ist dem „Atomzeitalter“ gewidmet mit seinen euphorischen Hoffnungen und den eschatologischen Glauben an das „Paradies“. Der Atomeuphorie folgte die Atomhysterie, dann die „Energiewende“ hin zur Illusion hundertprozentiger Stromdeckung durch Wind und Sonne. Dabei hatte schon Ernst Bloch gesagt, dass die Sonne „immer nur einen Bruchteil der Energiegefräßigkeit moderner Zivilisationen befriedigen“ könne. Auch „Biosprit“ und Wind reichen nicht. Dann spannt Radkau den Boden „Zwischen Heimat und Ferne: Reale und virtuelle Räume der Zukunft“, vom Heimatverlust von Millionen Vertriebener, der generellen Reiselust der Deutschen und der Skepsis von Klaus Mehnert ob der „Eine-Welt-Utopie“: „Wie aber sollte eine effektive Weltregierung anders zustande kommen als durch die Vorherrschaft einer einzelnen Großmacht über die Völker der Erde, und diese wieder ohne Gewaltanwendung?“ Er widmet sich den Raumfahrtphantasien wie der Missionierung der „Dritten Welt“ und die Entstehung der „linken“ Parole von „offenen Grenzen für alle Flüchtlinge“. Er analysiert die „Öko-Multikulti-Szene“ und resümiert: „Multikulti bedeutet in Wahrheit „Nullkulti“. Die „Weltgesellschaft“ sei ein „Produkt der Panoramaperspektive“ vom Weltraum aus. „Das wirkliche Leben vollzieht sich in kleinen Welten“!

 

Natürlich dürfen auch nicht die „drohenden Bildungskatastrophen – von Picht bis PISA“ fehlen. Hier spielte die FDP eine verheerende Rolle und stellte Theodor Heuss „auf den Kopf“, der skeptisch war gegen „eine Akademisierung der technischen Ausbildung“. Auch Adenauer war für „mehr“ Volksschule, Berufsschule, Mittelschule, Dann kämen die Ingenieurschulen, die Technischen Hochschule und Universitäten. „Die Universitäten am Schluss, von Gymnasien keine Rede!“ Ihm ging es um die „Zukunft der kleinen Leute“. Zum Bologna-Prozess zitiert er die IG Metall: „ Die Spezialisierung ist der Wahnsinn. Wir haben heute 1400 Technikabschlüsse an Hochschulen. Absurd!“ Auch die Picht-Bewunderin Hildegard Hamm-Brücher kam zu der Erkenntnis, „Allotria“ sei wichtigster Bestandteil aller Schulreformen. Die „Inklusion“ wurde dabei nicht einmal erwähnt. Auch den „Achtundsechzigern“ widmet Radkau ein Kapitel. Als Historiker falle es ihm schwer, „sich das billige Vergnügen zu verkneifen, aus der Rückschau über einstige Fehlprognosen zu spotten“. Die Anmaßung des Wissens sei die „Berufskrankheit des Prognostikers“.

 

Seit der Stockholmer Umweltkonferenz 1972 der UNO wurden „Umwelt“ und Zukunft“ das zentrale Thema, zu dem sich als neues Zauberwort „Nachhaltigkeit“ gesellte. Zuerst wurden die Einheit von „Ökonomie und Ökologie“ beschworen, wurden „Kreislauf-Modelle“ theoretisch erörtert, entstand das Schlagwort vom „Einklang mit der Natur“. Katastrophenszenarien wurden große Mode. „Der Wald stirbt – Saurer Regen über Deutschland“ titelte der Spiegel im November 1981. Doch das „Waldsterben“ blieb aus, dank des höheren CO2-Gehalts der Luft. 1986 wurde das nächste Unheil propagiert, die „Klimakatastrophe“. Das aussichtslose Vorhaben „Klimaschutz“ wurde zum Spielzeug der Politik. Nach dem „nuklearen Winter“ wurde „global warming“ zur Gefahr aufgebaut. Seit der Rio-Konferenz 1992 jagt eine Weltklimakonferenz die andere, ist der Stopp des „Klimawandels“ das große Zukunftsthema. So überaus kritisch Radkau als Historiker ist, beim Klima-Thema ist er naiv und unkritisch und träumt von „Ökotopia“. Dabei ist der „Klimawandel“ im Rahmen der Klimageschichte ein Forschungsgenstand für Historiker. Als umfassend gebildeter Historiker muss er wissen, dass „Klima“ ein Abstraktum ist, das von 30jährigen Wetterbeobachtungen abgeleitet wird und damit keine eigene Existenz hat. „Klima“ ist kein „Gut“, das man schützen könnte, auch deswegen nicht, weil der „Schutz des Wetters“ so utopisch ist, dass nicht einmal die „Klima-Experten“ dieses Wort in den Mund nehmen.

 

Joachim Radkau moniert zurecht, dass die „Diskussionen über Zukunftsszenarien allzu oft ahistorisch geführt werden“, aber macht dann selbst diesen Kardinalfehler. Wenn er vom Abstraktum „die Technik“ spricht, hätte er merken müssen, dass auch „das Klima“ ein Abstraktum ist. Die Realität heißt Wetter und Wetter ist unendlich komplex! Wenn das Wetter über wenige Tage hinaus nicht berechenbar und vorhersagbar ist, dann gilt, dies -logischerweise- auch für jegliches Klima, weil alle Klimata vom Wetter abgeleitet sind. Schade, das Buch ist ansonsten sehr instruktiv, lesenswert. Jeder Klimawert ist ein postfaktisches aus Wetterdaten abgeleitetes Konstrukt und beschreibt nichts als eine fiktive zu Mittelwerten komprimierte Wettervergangenheit.

 

In dem vielstimmigen Finale schreibt Radkau unter These 9: „Himmel-Hölle-Szenarien sind keine echten Alternativen, und: Vorsicht mit Apokalypsen!“ Doch er selbst ist, aus welchen Gründen auch immer, dem „Cry-Wolf-Effekt“ verfallen. Das Buch hat viele Lichtseiten, aber auch markante „Schwarze Löcher“.

 

Wolfgang Thüne

Oppenheim, den 20. März 2017

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