15thDezember

Buchbesprechung: Siemens, Werner von: Lebenserinnerungen; Finanzbuchverlag; München 2017; 320 Seiten; ISBN 978-3-95972-001-1; 9,99 €

Es war keine Garage, es war eine Gefängniszelle, in der Werner Siemens sein erstes Versuchslabor errichtete, um später zu einem der größten Erfinder und bedeutendsten Industriellen des Deutschen Kaiserreichs zu werden. Seine zum 200. Geburtstag am 13. Dezember 1816 herausgegebenen Lebenserinnerungen sind äußerst lesenswert und in vielerlei Hinsicht lehrreich, auch was die Motivation seines Handelns betrifft.

 

Werner Siemens wurde in Lenthe bei Hannover geboren, wo sein Vater ein „Obergut“ gepachtet hatte. Doch „die englischen Prinzen, die damals in Hannover Hof hielten, kümmerten sich nicht viel um das Wohlergehen des Landes, das sie wesentlich nur als ihr Jagdgebiet betrachteten“. Freiere Zustände suchend pachtete der Vater die großherzogliche Domäne Menzendorf im Fürstentum Ratzeburg. Er verlebte dort „glückliche Jugendjahre“. Die Großmutter unterrichtete die Kinder: „Sie lehrte uns lesen und schreiben und übte unser Gedächtnis durch das Auswendiglernen unzähliger Gedichte“. Später besuchte Werner das Lübecker Gymnasium und entdeckte seine Liebe zum „Baufach“. Da die Mittel zum Studium fehlten, wurde ihm in der Schule geraten, beim „preußischen Ingenieurcorps“ einzutreten. Sein Vater meinte dazu: „Der einzige feste Punkt in Deutschland ist der Staat Friedrichs des Großen und die preußische Armee, und in solchen Zeiten ist es immer besser, Hammer zu sein als Amboß.“

 

Werner schildert, wie er Ostern 1834 von Schwerin mit „mäßigem Taschengelde nach Berlin“, nach „dem Hungerlande Preußen“ wanderte, um „unter die künftigen Hämmer zu gehen“. Dabei war es gar nicht so einfach, „als Ausländer in die preußische Armee eintreten“ zu dürfen. Nach längerem Exerzitium erhielt er im Herbst das „ersehnte Kommando zur vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule nach Berlin“. Sein sehnlichster Wunsch ging in Erfüllung. Nach dreijähriger Schulzeit machte er drei Examina, zum Fähnrich, dann Armeeoffizier und Artillerieoffizier. Seine Lieblingsfächer waren Mathematik, Physik und Chemie. Dann begann seine „Soldatenzeit“, mit allen Höhen und Tiefen. Am 8. Juli 1839 starb seine Mutter und am 16. Januar 1840 sein Vater. Er erhielt die „spezielle Aufsicht“ über seine Brüder. Als Sekundant bei einem Duell wurde er zu einer Haftstrafe verurteilt, die er in der Zitadelle von Magdeburg absitzen sollte. In seiner Zelle richtete er ein kleines Laboratorium ein. Es gelang ihm die galvanische Vergoldung und Versilberung von Bestecken. Er ließ diese Erfindung patentieren , was zu seiner Begnadigung führte.

In der Soldatenzeit betätigte er sich überwiegend als Erfinder, mit Zustimmung des Generalstabs. Besondere Beachtung richtete sich auf die Ersetzbarkeit der optischen Telegraphie durch die elektrische. Er experimentierte auch mit der „Schießbaumwolle“, was dem Kriegsminister sehr gefiel. Im Sommer 1847 verlegte er „die erste längere unterirdische Leitung von Berlin bis Großbeere“. Am 12. Oktober 1847 in einem Hinterhause der Schöneberger Straße gründete er mit dem Mechaniker J. G. Halske seine Firma „Siemens & Halske“ in Berlin. Ein sehr instruktives Kapitel ist „1848“, das Jahr der „48er Revolution“. In Schleswig-Holstein erfolgte ein Aufstand gegen die dänische Herrschaft. Er wurde nach Kiel beordert, um den Hafen durch unterseeische Minen mit elektrischer Zündung zu verteidigen. Wie er die Seebatterie Friedrichsort einnahm, zum Bollwerk ausbaute und verteidigte, ist mehr als lesenswert. Zum Schluss ergriff ihn immer lebhafter die Sehnsucht nach seiner wissenschaftlich-technischen Tätigkeit in Berlin.

 

Auf 30 Seiten schildert er die Abenteuer, die mit dem Bau der ersten Telegraphenlinien verbunden waren, und zwar in einer Anschaulichkeit, die bewundernswert ist. Dies betrifft auch das nächste Kapitel, das sich mit den „russischen Unternehmungen“ befasst. Hier wird ausführlich seine erste Reise 1852 nach St. Petersburg, die über Königsberg führte, beschrieben und tiefgehende Einblicke in die russische Mentalität. Im Herbst 1853 wird die Kronstädter Kabellinie als erste submarine Telegraphenlinie der Welt fertig gestellt. Mit Beginn des Krimkrieges 1854 erfolgen Aufträge über Aufträge, auch zu einer Telegraphenlinie zur Krim bis zur Festung Sebastopol. Danach geht es um den Bau von Seekabeln, über das Mittelmeer, bis nach Indien und über den Nordatlantik. Aus Cartagena, wo Siemens mit Engländern und Franzosen nach einem „Kabelbruche“ weilte und der Sieg Preußens über Dänemark bekannt wurde, schreibt er: „Im Verkehr mit Engländern und Franzosen hatte ich während der Kabellegung vielfach schmerzliche Gelegenheit gehabt, mich davon zu überzeugen, in wie geringer Achtung die Deutschen als Nation bei den anderen Nationen standen.“ Waren in den Medien „mitleidige Äußerungen über die gutmütigen, träumerischen und unpraktischen Deutschen zu lesen“, so waren es jetzt „wutentbrannte Artikel über die eroberungssüchtigen, die kriegslustigen, ja die blutdürstigen Deutschen!“ Siemens: „Meine Selbstachtung als Deutscher stieg bei jedem dieser Ausdrücke bedeutend“.

 

Siemens wirkte aber auch in die Öffentlichkeit wie die Politik ein und betätigte sich für drei Jahre als Abgeordneter der „deutschen Fortschrittspartei“. Siemens plädierte für die europäische Einigung. Es müsse „das Gefühl der Solidarität Europas den anderen Weltteilen gegenüber entwickelt und es müssen dadurch die innereuropäischen Macht- und Interessenfragen auf größere Ziele hingelenkt werden“, wenn „Europa seine dominierende Stellung in der Welt behaupten oder doch wenigstens Amerika ebenbürtig bleiben will“. Diesbezüglich fasste Siemens den kühnen Plan, „eine telegraphische Speziallinie zwischen England und Indien durch Preußen, Rußland und Persien, die Indo-Europäische Linie, ins Leben zu rufen“. Ein Kapitel ganz besonderer Art ist „Indolinie und Kaukasus“. Dieses Kapitel ist von ganz besonderem Reiz und Informationsgehalt. Man muss es lesen! Haben Sie schon einmal „Kachetinerwein in Büffelhörnern“ getrunken und „Filet-Schischlick“ gegessen?

 

Das Schlusskapitel „Dynamomaschine, 1870er Jahre, Lebensabend“ rundet diese ausgezeichneten „Lebenserinnerungen“ ab, die mit den heutigen 0815-Biographien nichts gemein haben. Greifen Sie zu! Genießen Sie diese!

 

Wolfgang Thüne

Oppenheim, den 30. November 2016

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