Buchbesprechung: Rothacher, Albrecht: Das Unglück der Macht, Frankreichs Präsidenten von de Gaulle bis Macron. Berliner Wissenschaftsverlag; Berlin 2020; Seiten 613; ISBN 978-3-8305-3959-9; EURO 49,00.
Es ist eine riesige Sisyphusarbeit, die sich Rothacher gemacht hat, auf originelle Art und Weise uns Deutschen die französische politische Geschichte so familiär nahe zu bringen. Das Buch ist übersichtlich gegliedert in zwei Teile „Menschen und Apparat“ sowie die „Biographien“. Im ersten Teil werden in zehn Kapiteln die besonderen Verhältnisse mit den „Schwächen und Stärken des Präsidialsystems“ über „Die Familiäre und politische Sozialisation“, die „Ersten Damen“ und „Die Hölle des Matignon“ bis „Das bittere Ende“ sehr ausführlich beschrieben.
Das in Europa einzigartige, sehr hierarchisierte und disziplinierte französische System abgehobener Spitzenpolitiker und hochqualifizierter Elitebeamte funktioniert, mit all ihren Stärke, aber auch mit sehr viel Schwächen. Eine politische Karriere ist nicht jedermanns Sache und ermöglicht eigentlich nur den Aufstieg „persönlichkeitsgestörter narzisstischer Egomanen als Überleben der Rücksichtslosesten“. Die Direktwahl des Präsidenten ist populär. Der tatsächliche Unterbau der Macht ist etwas, in der die Absolventen der ENA, eine Art republikanischer Amtsadel, dominieren. Es herrscht der feste Glaube an die eigene Überlegenheit. Ursächlich ist ein mandarinatsartiges vielfach vernetztes Machtkartell in Staat und Wirtschaft am Ruder, das sich für unendlich überlegen und unfehlbar hält. Die napoleonische Tradition scheint ungebrochen. Dank de Gaulle lebt der Bonapartismus, der „Tradition des heiligen Frankreichs“ verpflichtet, fort. Der Allmacht des Präsidenten entspricht die Ohnmacht des Parlaments. So ist der Premier für die schlechten Nachrichten zuständig und wird für alle Fehler haftbar gemacht. „Der Präsident hat gesagt“ ist für alle Befehl!
Die Präsidenten waren Charles de Gaulle, die „inszenierte Inkarnation Frankreichs“, Georges Pompidou, der „konservative Modernisierer“, Valéry Giscard d`Estaing, der „Mensch, der König sein wollte“, François Mitterand, die „sozialistisch Sphinx“, Jaques Chirac, „Bonhomie und die Klaviatur der Macht“, Nicolas Sarkozy, der „Mann, der schneller als sein Schatten lief“, François Hollande, ein “normaler Präsident mit gebrochenen Versprechen“, Emmanuel Macron, vom „kleinen Prinzen zum entzauberten Jupiter“. Die grundsätzliche Fragestellt sich, warum ausgerechnet der politische Betrieb als so intrigenhaft, verlogen und unehrenhaft wahrgenommen wird. Politiker rangieren nur noch knapp vor Kinderschändern, Drogenhändlern, Straßendirnen. Sie alle beherrschen die „Kunst des manipulativen Schaumschlagens“. Es wird mit harten Bandagen gekämpft, am liebsten mit der systematisch gestreuten Diffamierung. Die Wutanfälle von de Gaulle bis Sarkozy waren legendär. Jedermann ist formal mit Schlips und Jackett kostümiert. Macron hat in seinem Wahlkampf 2017 ein „Meisterwerk an Wohlfühl-Unverbindlichkeiten“ abgeliefert. Die offiziellen Budgets des Élysée, die der Nationalversammlung vorgelegt wurden, waren „reiner Schwindel und fauler Zauber“.
Interessant ist auch das Eheleben der Präsidenten. Waren noch de Gaulle und Pompidou getreue monogame Gatten, so begann mit Giscard die Phase der verheirateten, aber pathologisch untreuen Ehemänner. Albrecht stellt die Frage: „Wie konnten aus netten, hübschen und intelligenten jungen Frauen aus gutem Hause, die nach zahlreich vorhandenen Bilddokumenten und Zeitzeugnissen fröhliche und lebenslustige Menschen waren, nach Jahren und Jahrzehnten an der Seite der Politiklaufbahnen ihrer Gatten zumeist verbitterte, unglückliche und despotisch agierende Kreaturen werden, die in ihrem Umfeld häufig Furcht und Schrecken verbreiteten?“ Ja, mit Liza Minnelli ist das Leben ein Kabarett! Und: Élysée und Matignon sind keine Ponyhöfe, sondern werden von politischen Alpha-Tieren behaust!
Zum Schluss noch einige Aspekte zu Mitterand und Deutschland. Er wird als „von kaltem Ehrgeiz und ungeniertem Machtstreben beseelt“ dargestellt und galt „als zynisch, selbstbewusst, einzelgängerisch, chronisch unpünktlich“. Er bestand auf Abstand und Respekt und tolerierte weder Vertraulichkeiten noch Disziplinlosigkeiten. Nach acht Jahren an der Macht ließ er sich als „Dieu“ anreden, zeigte Neigungen zum Sonnenkönig. Vom Mauerfall am 9. November 1989 wird Mitterrand überrascht. Fünf Tage später avisiert er eine Koalition der Sowjetunion und Großbritannien und forderte eine „Europäische Konföderation“. Das war die Vision von de Gaulle aus 1965, doch sie enthielt die deutsche Wiedervereinigung. Das Händchenhalten mit Kohl in Verdun zum trotz drohte er, dass er wieder „wie 1914 und 1941 eine Franko-Britisch-Russische Allianz“ schmieden werde. Er besuchte Gorbatschow und sogar Modrow in Ost-Berlin. Er bestand auf die Anerkennung „der Oder-Neiße-Linie als polnischer Westgrenze“ und gab erst Ruhe, als er seine Forderungen durch hatte. Schließlich nötigte er auch Kohl die „Europäische Währungsunion“ wie den Euro ab. Am 8. Mai 1995 bei seinem Abschiedsbesuch in Berlin würdigt er die „Tapferkeit alles Soldaten“ und rührte Helmut Kohl zu Tränen!
Noch ein Blick in die Gegenwart, zu Emmanuel Macron. Er hatte gesagt, dass die „direkte Demokratie durch ihn als die Inkarnation des empirischen Volkswillens praktiziert würde“. Kein Diktator hat diesen Unsinn je schöner formulieren können. Der narzisstische Glaube an sich selbst und die eigene überlegene Einzigartigkeit ersetzen jedoch auch bei Macron keine kohärente Vision für die Zukunft Frankreichs und Europas. Doch der ewig lächelnde Kandidat ist zuerst „Franzose“!
Diplom-Meteorologe Dr. phil. Wolfgang Thüne
Oppenheim, den 14. Juni 2020